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OSTTIROLER
NUMMER 10/2010
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HEIMATBLÄTTER
menhänge ein Gespür gehabt zu haben. Die
Mutter schickte ihn zum Ministrieren nach
St. Andrä, ein Gotteshaus, das ihn beein-
druckte:
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„Die altehrwürdige Andreaspfarre
vermittelte mir erste Eindrücke von feier-
lichen Gottesdiensten, schöner Kirchen-
musik, von Geschichte, Kultur und Kunst. …
St. Andreas, eine romanische Uranlage, die
gotischen Zutaten, die barocke Erneuerung,
die Gräber des letzten Grafen Leonhard von
Görz und des ersten Pfandherrn von Lienz,
Michael von Wolkenstein, erregten schon
früh meine Phantasie.“ Wiesfleckers wis-
senschaftliche Forschungen kehrten später
oft an diese Stätten zurück.
Es war eine ungeheure Leistung der Mut-
ter, wenn sie dem begabten kleinen Hermann
nach der Volksschule 1924 den Besuch des
humanistischen Gymnasiums Vinzentinum in
Brixen ermöglichte, wo ihn neben der Schule
auch die zahlreichen Kulturdenkmäler inter-
essierten. Im nun erstarkenden Faschismus
wurden alle aus Österreich stammenden
Schüler aus „Alto Adige“ ausgewiesen. Wies-
flecker übersiedelte mit einigen Mitschülern
in das neu gegründete bischöfliche Gymna-
sium Paulinum in Schwaz. Auch hier in der
alten Bergwerksstadt fesselten ihn die Erin-
nerungen an den ehemals blühenden Tiroler
Bergbau. Er selbst äußert sich beim Rück-
blick auf Brixen und Schwaz:
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„Das alles er-
weckte mir früh eine starke gefühlsmäßige
Bindung an das Land Tirol.“
Prägend wirkte sich vor allem der Unter-
richt des aus Virgen stammenden Professors
Dr. Josef Resinger aus. Dieser konnte ihn
endgültig für das Fach Geschichte gewinnen.
Überhaupt seien es die Professoren am Pau-
linum gewesen, die die Schüler nicht nur in
der Wissensvermittlung ansprechen konnten,
sondern allgemein für Kultur und Natur zu
begeistern verstanden. Wiesflecker begann
die Universitätsstudien in den Fächern Ge-
schichte, Germanistik und Altphilologie an
der Innsbrucker Universität, setzte sie in
Wien und Rom fort, um wiederum nach
Innsbruck zurückzukehren, wo er in Profes-
sor Otto Stolz eine für seinen wissenschaft-
lichen Werdegang prägende Persönlichkeit
erlebte. Er war es, zugleich Direktor des heu-
tigen Tiroler Landesarchivs, der geschicht-
liche Theorie mit der Praxis, d. h. Quellen-
forschung mit der Geschichtsdarstellung, zu
verbinden verstand. Stolz war es auch, der
Wiesflecker an das Thema der Grafen von
Görz heranführte. Zu den entsprechenden
Archivstudien wieder nach Wien übersiedelt,
konnte er auch das Institut für Österrei-
chische Geschichtsforschung besuchen; er
schloss seine Ausbildung mit dem Doktorat
der Philosophie in den Fächern Geschichte
und Altertumskunde sowie mit dem Lehramt
aus Geschichte und Deutsch ab. Sein Dis-
sertationsthema hatte gelautet: „Die Verwal-
tung der ‚vorderen Grafschaft Görz‘ im Pus-
tertal im 15. Jahrhundert“.
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Nun folgte noch
eine verhältnismäßig kurze Zeit als Mittel-
schullehrer an verschiedenen Wiener Gym-
nasien.
Mit seinem Freund Andreas Veider (1908
bis 1943)
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, ebenfalls Lienzer und Bundes-
bruder bei der Studentenverbindung „Tiro-
lia“, und von derselben historischen Begeis-
terung geprägt, ergab sich wissenschaftlich
eine teils sehr intensive Zusammenarbeit.
Wiesflecker und Veider teilten sich sozusa-
gen das Görzer-Thema auf. Andreas Veider
bearbeitete in seiner Wiener Dissertation die
görzische Verwaltung bis zum Ende des 14.
Jahrhunderts.
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Die fruchtbare Zusammen-
arbeit beendete der im Herbst 1939 ausge-
brochene Zweite Weltkrieg. Dem National-
sozialismus stand Hermann Wiesflecker ab-
lehnend gegenüber:
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„Erziehung, Instinkt
und Einsicht hatten mich vom National-
sozialismus ferngehalten …“
Noch vor Kriegsbeginn, im August 1939,
musste H. Wiesflecker zur deutschen Wehr-
macht einrücken und dann die Feldzüge in
Polen (1939), Frankreich (1940) und Russ-
land (1941/1942) mitmachen. Ende 1942
wurde er bei heftigsten Abwehrkämpfen
gegen die Rote Armee im Nordwesten von
Moskau durch den Verlust eines Beines
schwerstens verwundet – aber er überlebte:
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„Heute noch fühle ich mich durch alle Ge-
fahren dieses Lebens wunderbar hindurch-
geführt. Mit 29 Jahren nur mehr auf einem
Bein im Leben zu stehen, war nicht ermuti-
gend. Als ich im Heimatlazarett erkannte,
um wie viel schwerer es mich hätte treffen
können, war ich mit meinem Schicksal zu-
frieden.“
Noch im Lazarett konnte Hermann Wies-
flecker die wissenschaftlichen Studien wie-
der aufnehmen und er befasste sich intensiv
mit den görzischen und tirolischen Ge-
schichtsquellen bis 1295, Todesjahr des
Tiroler Landesfürsten Meinhard II. aus dem
Haus Görz. Die Arbeiten förderte der von
Wiesflecker sehr geschätzte, aus Südtirol
stammende Historiker Leo Santifaller. Dieser
wirkte als Ordinarius für Geschichte des Mit-
telalters und der Hilfswissenschaften an der
Universität Wien. Die Wertschätzung kam
eigentlich gegenseitig zum Tragen. Santi-
faller, der die Befähigung Wiesfleckers voll
erkannte, band ihn durch die Beauftragung
mit einem Proseminar in das universitäre
Leben ein, führte ihn zur Habilitation
(1946) und empfahl ihn im Folgejahr der
Grazer Universität zur Supplierung auf dem
nach der NS-Zeit wiedererrichteten und frei
gewordenen Lehrstuhl für Österreichische
Geschichte, wo er zunächst als Extraordina-
rius, ab 1961 als Ordinarius wirkte.
Neben der Forschung legte nun Wies-
flecker ein Hauptaugenmerk auf die Lehre,
wobei er sich – nach seinen eigenen Worten
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– einerseits an den Forderungen eines guten
Mittelschulunterrichts, wie er ihn selbst ken-
nen gelernt hatte, und andererseits an den
Bedürfnissen von wissenschaftlich interes-
sierten Fachhistorikern orientierte. – In Er-
gänzung des üblichen „Frontalunterrichts“
führte er ein „Konversatorium“ als wissen-
schaftliches Wechselgespräch ein, das von
den Studenten dankbar angenommen wurde.
Hervorzuheben ist der Umstand, dass sich
H. Wiesflecker bereits damals, also in den
1950er-Jahren, mit der Zeitgeschichte be-
fasst hat. Nicht nur in den Mittelschulen,
auch auf den Universitäten hörte damals die
Schilderung des Geschichtsablaufs mit dem
Ende der Österreichisch-ungarischen Mo-
narchie bzw. dem Ersten Weltkrieg auf. Der
Professor bot eine Vorlesung über die Ge-
schichte der Ersten Republik an und führte
sie später bis zum Abschluss des österrei-
chischen Staatsvertrags (1955) weiter. Viele
Studenten erachteten diese Vorlesung als ein
ausgesprochenes Desiderat und daher genoss
sie auch einen großen Zulauf.
Die frühen Nachkriegsjahre widmete
Wiesflecker der görzischen und tirolischen
Geschichte. Dabei lässt sich ausgezeichnet
seine Methode rekonstruieren, wobei der
erste Schritt nach dem Sammeln der Quellen
in der Herausgabe der jeweiligen Regesten
bestand, die die Grundlage bzw. Vorausset-
zung jeder weiteren geschichtlichen Inter-
pretation und Auseinandersetzung mit ent-
scheidenden Sachfragen bilden. In Bezug
auf die Görzer und Tiroler Geschichte er-
schienen nun die Regestenbände über die
Grafen von Görz und Tirol von 957 bis
1271
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und über den Tiroler Landesfürsten
Meinhard II.
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Auch in den Osttiroler
Heimatblättern hat H. Wiesflecker Regesten
zur Geschichte der Stadt Lienz publiziert.
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Von größter wissenschaftlicher Bedeutung
sind die Abhandlungen „Die politische Ent-
wicklung der Grafschaft Görz und ihr Erbfall
an Österreich“
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, die Untersuchung „Entste-
hung der Stadt Lienz im Mittelalter“
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und
Professor Hermann Wiesfecker bei seiner
Festrede im Rahmen der Gründungsver-
sammlung des Tiroler Geschichtsvereins im
Innsbrucker Zeughaus, 12. November 1982.
Foto: Meinrad Pizzinini
Univ.-Prof. Dr. Wiesfecker als Rektor der
Karl-Franzens-Universität Graz im Studien-
jahr 1964/65.
Foto: „Alpenland-Foto“ V. Ebner, Graz