Seite 25 - Gemeindezeitungen

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09/2014
Die ersten höheren Lebewesen
auf der Erde waren die Pflanzen.
Erst auf der von ihnen geschaffe-
nen Grundlage konnten sich
andere Lebensformen entwic-
keln. Nur die grünen Pflanzen
können mit Hilfe des Chloro-
phylls – jenes Stoffes, der auch
für ihre Farbe verantwortlich ist –
die Sonnenenergie aufnehmen,
speichern und in einem Assimila-
tionsprozess organische Stoffe
aus der Erde ihrem Organismus
einverleiben. Man muss kein Mystiker sein, um die grünen
Pflanzen als die ureigenen Kinder des Kosmos zu sehen: Ihre
Eltern sind Sonne und Erde. Von ihnen werden die Pflanzen
mit stofflicher und energetischer Nahrung versorgt. Die Sub-
stanz der Pflanze ist wiederum die Nahrung für Tier und
Mensch. Nicht nur in der Form von Aufbaustoffen für den
Körper – die Pflanzen liefern auch die Energie für alle inneren
und äußeren Lebensvorgänge, die Vitamine für die Regulie-
rung des Stoffwechsels, alle Heilmittel, die den kranken Orga-
nismus wieder in sein Gleichgewicht bringen, und sogar
Stoffe, die auf die Psyche des Menschen einwirken.
Pflanzen, die die letztgenannte Eigenschaft besitzen, nennt
man psychotrop. Sie gehören zum größten Teil zu jenen Blü-
tenpflanzen, die wir als Kräuter bezeichnen. Ihre enge Verbun-
denheit mit dem menschlichen Organismus, die sich sogar auf
den geistigen Wesenskern des Menschen, auf seine Wahrneh-
mung, seine Gefühle und sein Bewusstsein erstreckt, übte seit
jeher eine Faszination auf den Menschen aus, sobald er einmal
die wunderbare und oft auch unheimliche Wirkung dieser
Kräuter entdeckt hatte. Sie erhielten ihren Platz im Kult und in
den naturreligiösen Praktiken, hatten während der gesamten
Menschheitsentwicklung eine wesentliche kulturelle Funktion
und werden auch heute noch von vielen Völkern für heilig
gehalten. Selbst im europäischen Brauchtum, das sich über ein
Jahrtausend in einer christlichen und in den letzten 250 Jahren
in einer zunehmend technisierten und naturwissenschaftlich
geprägten Welt behauptete, gibt es noch eine Vielzahl natur-
magischer Riten. In deren Mittelpunkt stehen fast immer
bestimmte Kräuter.
Im Alpenraum – also bei uns – ist der „Frauendreißiger“ das
beste Beispiel dafür. Das ist der Zeitraum vom 15. August,
dem Feiertag Mariä Himmelfahrt, bis zum – früher als kirchli-
ches Hochfest gefeierten – Tag „Mariä Namen“. Auf diese
dreißig Tage zwischen den Marienfeiertagen bezieht sich auch
die Bezeichnung „Frauendreißiger“.
Der 15. August als Mitte des Erntemonats war schon lange vor
der Christianisierung ein besonderer Tag. Nicht nur im euro-
päischen Raum – im antiken Ägypten galt er als Geburtstag
der Isis. Diese Göttin wurde als die große Zauberin und die
Mutter aller Kräuter verehrt, denn die Kräuter sind nach ägyp-
tischen Mythen aus jenen Tränen gesprossen, die Isis um ihren
Geliebten und Bruder Osiris vergoss. Isis als Kräuterzauberin
dürfte auch das Bild der Gottesmutter Maria als Schutzherrin
der Heilkräuter geprägt haben. Dass der hohe Marienfeiertag
am 15. August, der im Volksmund auch heute noch „Mariä
Wurzweih“ genannt wird, im Zeichen des Kräutersegens steht,
fußt somit auf einer Tradition, die sich zumindest bis in das
dritte vorchristliche Jahrtausend zurückverfolgen lässt.
Im Brauchtum gelten die während des „Frauendreißigers“
gesammelten Kräuter als besonders heilkräftig. Und im „Frau-
enbuschen“, dem Strauß aus bestimmten Kräutern, der am 15.
August zur Weihe in die Kirche getragen wird, manifestiert
sich in christlicher Prägung ein naturmagisches Ritual.
Der Frauenbuschen vereint üblicherweise sieben Kräuter.
Auch wenn es hinsichtlich der Anzahl und der Zusammenset-
zung regionale Unterschiede gibt, fällt doch ein Umstand auf:
Es sind nicht nur Heilkräuter im pharmazeutischen Sinn, son-
dern Kräuter, denen auch eine magische Wirkung zugeschrie-
ben wird. Die Kräuter sollen Schutz vor Hexerei, Feuersbrunst
und Hagelschlag bieten, zu einem erfüllten Sexualleben ver-
helfen, Menstruationsbeschwerden lindern oder die Geburt
erleichtern. Manche Kräuter des Frauenbuschens vergrub man
nach dem Abernten der Felder am Rand eines Ackers und
beschwor auf diese Weise die Fruchtbarkeit für das kommen-
de Jahr. Oft wurden sie auch einem Toten in den Sarg gelegt.
Der Frauenbuschen im Herrgottswinkel der Stube sollte das
Haus zuverlässig vor Blitzschlag schützen. In den Raunächten
um die Wintersonnenwende kamen getrocknete Kräuter vom
Frauenbuschen zur Kohle in der Räucherpfanne und vertrie-
ben im segnenden Rauch die Unholde der Finsternis aus Haus
und Stall.
Die Schafgarbe als typisches Frauenkraut hat in jedem Frauen-
buschen ihren Platz. Sie ist ein wichtiges Heilkraut bei vielen
Frauenleiden und auch als Wundkraut geschätzt.
Der Beifuß, ein bitter schmeckendes Kraut, ist nicht nur
Gewürz für Lamm- und Wildbraten. Sein Absud war für die
Hebammen früherer Zeit ein unverzichtbares Mittel, um eine
ausbleibende Menstruation anzuregen oder – in entsprechend
gesteigerter Dosierung – die Geburt zu beschleunigen oder die
Nachgeburt zum schnelleren Abgang zu bringen.
Arnika ist mit den sonnengelben Blüten nicht nur ein optischer
Aufputz für den Frauenbuschen. Arnikasalbe oder Absud
wirkt bei äußerlicher Anwendung entzündungshemmend, anti-
septisch und fördert die Wundheilung. Arnika galt aber auch
als Kraut für den Wetterzauber. Bei Gewitter wurde mit
getrockneter Arnika geräuchert, um das Unwetter zu vertrei-
ben. „Steck Arnika an, damit sich das Wetter scheiden kann!“
ist ein Spruch, den man in Oberbayern heute noch hört – auch
wenn man im praktischen Bereich eher auf Blitzschutzanlage
und Wildbachverbauung vertraut.
Die Ringelblume ist heute vor allem wegen der Ringelblumen-
salbe bekannt – jenem zuverlässigen Wundheilmittel, das
Mensch und Tier gleichermaßen hilft und in keiner Hausapo-
theke fehlen sollte.
Auch das Eisenkraut, das Liebstöckl und der Dill sind Teil des
Frauenbuschen.
Den Mittelpunkt des Frauenbuschens bildet oft eine Königs-
kerze, und häufig findet man noch Kamille, Quendel oder Lab-
kraut in dem kunstvoll gebundenen Strauß.
Kräuter - gebündelte Kraft der Natur
Die Seite für die Gesundheit
mit Doktor Adelbert Bachlechner