Seite 14 - Gemeindezeitungen

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Chronik
Die "Wilde Fohre" und der "Kaschtålgeist"
Eine Episode vom „Gåssa Tate“, Josef Huber (+ 2006)
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Auch bei uns in Tessenberg ging zu meiner Schul-
zeit manchmal die Rede von der „wilden Fohre“
wenn an langen Winterabenden Nachbarn in die
„Gåssö“ kamen. „Gåssö“ wurden gegenseitige
abendliche Besuche genannt, manchmal wichtig,
um eine gemeinschaftliche Arbeit zu planen und
zu besprechen, und dann wieder nur so zur Un-
terhaltung. Die Weiberleut saßen dabei nie müßig
da. Es musste noch ein Fleck auf ein Loch einer
Bubenhose geflickt oder ein Socken gestrickt
oder gestopft werden. Am öftesten surrten leise
die Spinnräder.
Auf alles Erdenkliche kam da die Rede, auch
hörenswert für uns Buben. Um das Zubettgehen
noch etwas hinauszuzögern kramten wir noch in
unseren Schultaschen und fanden und fanden das
Gesuchte einfach nicht.
Wieder einmal hatte ich meinen Aufenthalt in der
warmen Stube künstlich verlängert. Es waren ein
paar Nachbarn gekommen und mit meinem
Großvater pafften nun drei mit ihren Tabakpfei-
fen. In dicken Wolken kräuselte der Rauch an die
Stubendecke. Die Petroleumlampe hatte Mühe im
ganzen Raum noch etwas Licht zu verbreiten.
Weil es November - der Allerseelenmonat - war,
ging die Rede um diesen und jenen Verstorbenen
und wie er etwa „drüben“ angekommen sei. Da
gingen die Meinungen weit auseinander. Ein
Nachbar meinte, es gäbe ja so viele Arten die
irdischen Sünden und Schuldhaftigkeiten abzu-
büßen, unter anderem auch die „Wilde Fohre“.
Das seien Arme Seelen, an die niemand denke, o-
der nur selten, und die schon lange leiden müss-
ten. Es könnten durchaus Verwandte, Bekannte,
Freunde und Nachbarn darunter sein. Geholfen
könnte ihnen durch Gebet, aufgeopferte und be-
stellte Messen, Ablässe und Weihwasser werden.
Da waren alle in der Stube einig und meinten,
dass diese Erlösungshilfen jetzt mehr angewen-
det würden, weil die „Wilde Fohre“ in letzter Zeit
eigentlich nicht mehr "in Tåatngrobö" herunter-
gefahren sei. Hoffentlich dürfe sie noch länger,
oder für immer ausbleiben. Herr gib ihnen die
ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihnen,
beteten alle.
Zwischen dem Doppelhaus Hiesler-Schuster und
dem Haus vom „Hånsilatn“ Johann Furtschegger
waren fast hundert Meter Gemeindeweg. Ober
dem Weg hinauf gegen die Kirche ist steiles Feld
und dann der locker bewaldete Bichl, „Kirchöggö“
genannt, durch welches auch der Kirchsteig in ein
paar Reidn hinaufführte und heute noch führt, bis
zur Kirche.
Unter dem Weg ist auch ein Steilhang, der bald in
Wald übergeht. Vom Schusterhaus weg standen
am unteren Wegrand zehn Eschen um dem Weg
Halt zu geben. Die weiteren vierzig bis fünfzig
Meter war ein kleiner Graben mit Lehm als Unter-
grund. Auch etwas Nässe kam an einigen Stellen
zu Tage. Das machte es notwendig, den Weg
durch ein „Geprente“ mit Lärchenstämmen und
Steinen zu festigen um ihn vor dem Abrutschen
zu bewahren. Die Stufe vom Weg in den Graben
war ein bis zwei Meter tief. Im Graben wuchsen
Unkräuter und Dornstauden in großer Zahl. Die
Leute entsorgten Scherben und sonstige Abfälle
zwischen den Sträuchern. Dieser Graben wurde
allgemein der „Tåatngrobö“ (Totengraben) ge-
nannt. Schon der Name „Tåatngrobö“ ließ es kalt
durch mich fahren und verursachte eine Gänse-
haut, wenn ich in der Dunkelheit dieses Wegstück
begehen musste. Ab diesem Tag brachte ich diese
hundert Meter bei Nacht über einige Jahre nur
mehr im Laufen hinter mich. Ich stand am ge-
nannten Abend im dunklen Eck in der Stube hin-
ter einem der Nachbarn und alle waren so ins Ge-
spräch vertieft, dass mich niemand bemerkte. Der
Großvater nannte einige Dorfbewohner, die vor
längerer Zeit mit knapper Not der „Wilden Fohre“
entkommen waren, als diese in langem Zuge, Leib
an Leib und alle ohne Kopf, jammernd und mur-
melnd den „Tåatngrobö“ mehr schwebend als ge-
hend zu Tale fuhren. Das konnte zu jeder Nacht-
zeit sein, am öftesten aber rund um Mitternacht.