HB_2020_11

Mächtig ragt das Massiv der Venedigergruppe im inneren Gschlößtal inmitten der Hohen Tauern empor. Dem Wanderer, der dem Weg bis zum Talschluss folgt, bietet sich heute noch ein atemberaubender Aus- blick auf den Gipfel des Großvenedigers, umgeben von Schnee und Eis des Schlatenkees‘, an dessen Rändern Wildbäche entsprin- gen und sich über steile Bergwiesen winden. Dieser Anblick ruft nicht nur beim gewöhnlichen, sandalentra- genden Massentouristen, sondern vor allem beim gip- felbezwingenden Alpinisten ein Schauern hervor. Ein Schauern angesichts der Erhabenheit der sogenannten „weltalten Majestät“. 1 Das Er- habene war es, das viele Menschen seit dem 18. Jahrhundert dazu bewegte, sich nach ent- legenen Gegenden aufzumachen, um dort ehrfürchtig die schönsten Schöpfungen der Natur bestaunen zu können. Zunächst waren es Literaten, die diese Alpenregionen einem breiten Publikum bekannt machten, wie etwa Albrecht von Haller mit seinem Gedicht über „Die Alpen“ (1729), einer Mischung aus Landschaftsschilderung und philosophi- schen Überlegungen. 2 Im 19. Jahrhundert suchten Dichter, Intellektuelle und Künstler, die der Bewegung der Romantik angehörten, nach dem Ursprünglichen und Natürlichen. Aufgrund der zunehmenden Industrialisie- rung beschworen sie in ihren Werken diese alpinen Landschaften als eine Art Gegenwelt zu den Mühen des städtischen Alltags. Der „sentimentalische Blick“ des Städters auf eine von der Kultur nicht „verbildete Natur“ . 3 In der frischen Luft auf der Alm sollten sich die Lungen vom Ruß und Staub der Stadt erholen, auf den hohen Berggipfeln giert, entwickelte sich die Stadt zu einer regelrechten Kunst-Metropole, in der Ma- lerfürsten den Kunstmarkt „regierten“ . 4 Zur rechten Zeit am richtigen Ort mit dem richtigen „Konzept“ an- gekommen, wurde Defreg- ger hier berühmt mit seinen Darstellungen der Helden aus dem Tiroler Freiheits- kampf, mit seinen Porträts berühmter Persönlichkeiten – und vor allem mit seinen „erzählenden Genrebil- dern“ 5 . Erst in den letzten Jahren tauchten vermehrt Landschaftsbilder 6 auf, die Defregger auch als impres- sionistisch anmutenden Na- turschilderer zeigen – Bilder die jedoch nicht für die Öffentlichkeit be- stimmt waren. Und einige der interessante- sten davon waren im Gschlößtal entstanden. Über Defreggers Legendenbildung und sein Vergessen Wenngleich Defregger nach wie vor von der kunsthistorischen Rezeption als ein Ma- lerfürst dargestellt wird 7 , sah er sich selbst nicht in dieser Weise. Im Gegenteil, er legte beispielsweise keinen Wert auf seinen Adelstitel und vergaß zunächst, das „von“ in seinem Namen anzuführen. Ein Fauxpas, der ihm von anderen Adeligen eine Rüge ein- brachte. 8 Oder wenn sich jemand „ anschickte über ihn eine Biografie zu schreiben “ 9 , war Defregger darüber regelrecht unglücklich. Doch in der Zeit der Romantik schien ein- fach die Geschichte des Tiroler Bergbauern- buben, der es in München zu Reichtum und internationalem Ansehen gebracht hatte, zu verlockend, um sie mit allerlei Ausschmü- ckungen für nachfolgende Generationen zu überliefern. Diese Legendenbildung setzte bereits zu Defreggers Lebzeiten ein. 10 Bis zu NUMMER 11/2020 88. JAHRGANG OSTTIROLER HEIMATBLÄTTER H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “ die grenzenlose Freiheit spürbar sein. Es war die Zeit als die sogenannte Sommerfrische aufkam. Kein anderer Künstler des deutsch- sprachigen Raumes konnte diese unberühr- ten und heil erscheinenden Plätze in den Alpen besser ins Bild bringen wie Franz von Defregger. Die Verfasserin dieser Zeilen war erstaunt, dass der berühmte Maler genau an dem Ort, an dem sie selbst viele Sommer er- lebte, Impulse für seine spätere malerische Laufbahn erhalten hat. Defreggers Erfolgskonzept des „Tirolischen“ Gemeint sind damit Defreggers Motive, die ein Bild von Tirol zeigten, in denen tie- fer Glaube, Heimatverbundenheit, Tugenden und Werte noch in Ordnung schienen. Mit diesen Bildern zeigte er das vermeintlich „Tirolische“ von Tirol und traf damit den Geschmack eines saturierten Münchener Bürgertums. München war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben Paris ein Zentrum des Kunstschaffens gewesen. Von den aufgeschlossenen Wittelsbachern re- Franz von Defregger, „Großvenediger im Gschlöß“, Federzeichnung, 1865, enthalten in der Defregger-Hauschronik. (Privatbesitz) Foto: DKA, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Ursula Marinelli Franz von Defreggers Sommerfrische am Fuß des Großvenedigers Eine kunsthistorische Spurensuche

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