HB_2019_11-12

Die ideologische, soziale und somit auch kulturelle Übergangsphase vom 19. zum 20. Jahrhundert beinhaltet diesseits und jenseits der Zeitenwende einen über mehrere Jahrzehnte um- spannenden Abschnitt konstruktiver bis reaktionärer Entwicklungsprozesse. Der vielfach diskutierten formalen und funktionalen Aufbruchsstimmung in jener Zeit, von deren Auswirkungen wir heute im 21. Jahrhundert nicht un- erheblich profitieren, stehen erkennt- nistheoretisch, technisch bis sozioöko- nomisch revolutionäre Errungenschaf- ten einem gesellschaftspolitisch und kulturell reglementierten, konservati- ven Weltbild reibungsnah gegenüber. Kulturbildnerische Überzeichnungen und Nationalismen relativieren sich nicht selten im existenziell notwendi- gen Nebeneinander und geben so viel mehr als literarische, musikalische und bildnerische Interpretationen Zeugnis ihres epochalen Zustands ab. Die stili- stischen Ausprägungen der Romantik, des Klassizismus, Biedermeier und des Historismus konkurrieren in der Kunst des 19. Jahrhunderts mit den begin- nenden Variablen der Moderne, dem Realismus als kritischen Naturalismus und dem Impressionismus, indem die Ab- bildung der Natur sich als Synonym einer Geisteshaltung deklariert. Der einflussreiche deutsche Kunsttheo- retiker Konrad Fiedler, der sich mit diesem zeittypischen Stimmungsbild befasste, schreibt 1881 u. a. dazu: „Es geht ein ni- vellierender und ein unerbittlich positiver Zug durch die Welt. […] nun ist aber auch für sie die Zeit der Romantik vorüber; […] Noch niemals, so lautet die Überzeugung der modernen Naturalisten, haben die Künstler die Natur in ihrem ganzen Um- fange, in ihrer ganzen Nacktheit geschaut; noch niemals haben sie den Mut gehabt, sie unerschrocken so darzustellen, wie sie ist.“ 1 Tradition und Historismus treffen auf die Moderne Inwieweit diese Bewusstseinserfahrung den Einzelnen oder eine Gruppe tatsäch- quenz, Rezensionen in Periodika und nicht zuletzt mit der Billigung monar- chisch-großherrschaftlicher Instanzen von Wien bis Berlin in vehementer Konkurrenz zueinander standen. Der intellektuelle Druck, den die ein- zelnen Mäzene, Kunsthändler, Galeri- sten, Akademieprofessoren, kunstaffinen Schriftsteller und die Kunstschaffenden selbst auf das Präsentationsgeschehen ausübten, ist schließlich Teil der Quali- tätsfeststellung und der Sammlungsge- schichte. „Die große Masse künstleri- schen Schaffens war jedoch anders als das, was man als ‚Wiener Kunst um 1900‘ zu sehen gewohnt ist. Weniger auf- regend, oft konservativ und aus lokalen Traditionen gewachsen und oft den ‚Stil‘ vermissen lassend“ 2 , beschreibt Gerbert Frodl ein zeittypisches Erscheinungs- bild. Die klassische Genre- und Histo- rienmalerei, wie sie beispielhaft an der Akademie der Bildenden Künste in München tradiert wurde und mit Karl Theodor von Piloty (1826-1886) und Franz von Defregger (1835-1921) als Vertreter der so bezeichneten „Münch- ner Schule“ ihre Höhepunkte feierte, er- lebte parallel dazu die Malerei rund um Wilhelm Leibl (1844-1900) eine prinzi- pielle Neuausrichtung der inhaltlichen wie formalen Interpretation des Motivs. Die vom Konzept her heroisierend bis pathetisch dargestellte Zeitgeschichte oder die romantisierende ländliche Idylle ver- liert bereits vor 1900 in Künstlerkreisen zunehmend ihre idealistische Anhänger- schaft. Die Vorbildwirkung bzw. ideelle Verbundenheit zur französischen bzw. internationalen Kunst, die sich Jahrzehnte früher von nationalistisch klassizistischen Auffassungen abzugrenzen begann, führte schließlich zu inhaltlich wie systematisch neuen Lösungen, bei denen die Ebene der Hinterfragung des Zustands von gesell- schaftlichen Ereignissen, von Charakteren und diversen Einzelschicksalen ein zu- sätzliches Kalkül mit sich brachte – das „natürliche“ Vorbild nämlich erfährt nicht selten sein Widerbild im Realismus, im Symbolismus, deren Prinzip die Ausklam- 11-12/2019 87. JAHRGANG OSTTIROLER HEIMATBLÄTTER H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “ lich dann mehr oder weniger befreiend zu erreichen vermag, ist eben abhängig von Gesellschaftsstrukturen, Privilegien und nicht zuletzt vom Mut dazu, über das per- sönliche Grenzfeld zu blicken. Wieder be- zogen auf die bildende Kunst ist es nicht uninteressant festzuhalten, dass um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in allen großen Städten Europas die ver- schiedensten Richtungen, Strömungen und Stilausprägungen nebeneinander ver- treten waren und deren Positionen zuein- ander mit entsprechender Ausstellungsfre- Karl Hofmann, Friedhof am Gardasee (Cisano), Öl auf Leinen, 152,5 x 108,5 cm, um 1897, bezeichnet rechts unten: K. Hof- mann, Museum der Stadt Lienz Schloss Bruck. Das Gemälde zählt zu den am häufigsten ausgestellten Werken des Land- schaftsmalers. (Foto: Eleonora Bliem-Scolari) Eleonora Bliem-Scolari Karl Hofmann (1852-1926) Malerei und Architektur im Kontext der Stilwende

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