CHRONIK
PUSTERTALER VOLLTREFFER
JULI/AUGUST 2018
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„Ich lache wieder, fühle mich
frei und unbeschwert“, erzählt
Sarah als erstes. Auch kann sie
wieder die Berge Osttirols ge-
nießen, die sie für lange Zeit
aus ihrem Leben ausgeschlos-
sen hatte, weil sie in einem Ge-
fängnis „festhing“. „In meiner
eigenen Familie, die mir zu ver-
stehen gab, dass ich zu parieren
hätte, wie sie sich dies vorstel-
len, ansonsten sei ich nur
Dreck, den jeder als solchen be-
handeln dürfe.“ Versuchte Sarah
hin und wieder ihre eigenen
Vorstellungen vom Leben zu
leben, etwa einem Hobby nach-
Schwestern und herrische El-
tern. Der Ehemann arbeitete
auswärts. Sarah war deshalb die
meiste Zeit mit der Familie al-
leine, die großteils gleich ne-
benan wohnte. Sarah war ge-
bildet, hatte einen Studienab-
Sarah G. aus dem De-
fereggental erlebte,
was es heißt, von der
eigenen Familie zum
Selbstmordversuch ge-
trieben zu werden.
Mittlerweile konnte sie
sich aus dem „Gefäng-
nis Familie“ befreien
und lebt ein glückliches
Leben in Wien.
Verzweiflung und die Ohnmacht wuchsen bei Sarah stetig an.
zugehen, wurde sie von den Fa-
milienmitgliedern regelrecht in
den Boden „gestampft“. „Auf
sehr subtile Weise. Hinter den
Mauern wurde ich nur be-
schimpft und mit einer Selbst-
verständlichkeit von jedem ab-
gewertet, sodass ich nur mehr
brüllen hätte können. Sie konn-
ten es nicht ertragen, dass ich
mich über etwas freuen kann.“
Außenstehende merkten nichts
vom Verhalten der Familie.
Auch ihre Kinder wandten sich
gegen Sarah, traten auf ihre
Mutter verbal ständig ein.
Große Angst vor den
Kindern
„Im Laufe der Zeit entwickelte
ich sogar große Angst vor mei-
nen Kindern. Ich fühlte mich wie
ein zertretener Wurm. Meine
Kinder empfand ich als Herren
über mich, die mir keine Chance
ließen, mich zu rechtfertigen –
für Dinge, die mir ungerechtfer-
tigt vorgeworfen wurden.“
Sarah hatte in eine größere
Familie eingeheiratet. Ihr Ehe-
mann hatte einige jüngere
schluss, die Familienmitglieder
des Mannes verfügten maximal
über einen Lehrabschluss
oder/und saßen ohne Job da-
heim – während Sarah halbtags
einer sehr gut bezahlten Arbeit
nachging und von ihrem Chef
für ihre beruflichen Leistungen
sehr geschätzt wurde.
Von Schwindel bis
Panikattacken
„Den krankhaften Neid sei-
tens der Familienmitglieder auf
meine Ausbildung, meinen Job
und Erfolg spürte ich schon
sehr früh. Ständig wurde neben
mir etwa über mein Studium
gelästert, dass solch‘ ein
Schwachsinn nichts bringe und
ich nur eine ‚Obergescheite‘
wäre.“ Die Anfeindungen laste-
ten auf Sarah immer schwerer
und es stellten sich im Laufe
der Jahre stetig mehr gesund-
heitliche Probleme ein. Schwin-
del, Herzrasen, Panikattacken,
enorme Müdigkeit und vieles
andere mehr. „Ich konnte mich
kaum noch durch den Tag
schleppen. Niemand wollte
mern würde, dem Ehemann
nicht anständig behandle und
vieles andere mehr.“
Keine Loyalität
Wenn der Gatte amWochen-
ende vomArbeiten heimkehrte,
stand er nicht zu seiner Ehe-
frau, sondern zu seinen Eltern
und Geschwistern. „Er warf mir
ständig vor, dass ich mich unter
der Woche, wenn er nicht da
wäre, nur mehr fehlverhalten
und die anderen ärgern würde.
Dass ich immer für Unruhe
sorge, nie tue, was man mir an-
schaffe. Ich war oft sehr ver-
zweifelt, da mein Selbstwert
immer kleiner wurde, und ich
dieser schwierigen Situation
ohnmächtig gegenüberstand.“
Sarahs Eltern lebten nicht
mehr, Geschwister hatte sie
keine. Es nützte kein Gespräch,
keine ihrer Liebenswürdigkei-
ten. „Es wurde mir nur laufend
das Messer in den Rücken ge-
stochen.“ Sarah verlor zuneh-
mend die Kontrolle über sich.
Sie schrie, tobte, wütete, wurde
auch in ihrer Arbeitsstelle
immer aggressiver. „Das führte
sehen, was mit mir los war.
Vielmehr wurde noch mehr ver-
bal auf mich eingeprügelt und
mir meist sehr unterschwellig
vorgeworfen, dass ich jetzt zu
faul für alles wäre, mich nicht
richtig um meine Kinder küm-
dazu, dass ich fast meinen Job
verlor. Ich legte mich mit jedem
an, da ich nur mehr hochgradig
aggressiv und angespannt her-
umlief, kurz, ich hatte über-
haupt keine Nerven mehr.“
Rettung im letzten
Moment
„Als Folge wurde ich von den
Familienmitgliedern nun als
komplett ,Depperte‘ hingestellt.
Und das war ich dann auch tat-
sächlich. Allerdings wurde ich
von den anderen ,deppert‘ ge-
macht.“ Eines Tages fand man
Sarah mit aufgeschnittenen
Pulsadern im Badezimmer lie-
gen. In ihr war alle Hoffnung
gestorben, sich wehren zu kön-
nen. Sarah das Leben zu retten,
war allerdings noch möglich.
„Das erste, das ich von einem
Geschwister meines Mannes
hörte, als ich im Krankenhaus
wieder aufwachte: Du depperte
Kuh. Du baust nur Scheiße.“
„Und plötzlich: Genau durch
diese Worte wurde mir blitzar-
tig sonnenklar, dass nicht ich
der Wahnsinn in der Familie
bin, sondern das Familiensy-
stem ein sehr krankes ist, ich es
deshalb dringendst verlassen
musste.“
Sprung in ein neues
Leben
Unter Anleitung eines Thera-
peuten schaffte Sarah nach 15
Jahren Ehe letztendlich die
Trennung. „Dies kostete mich
wiederum sehr viel Kraft. Aber
ich wusste, dass ich dies nie be-
reuen würde. Ich ließ mich von
meinem Mann scheiden, der
mein Tun überhaupt nicht ver-
stand. Es hieß nur, dass ich, die
Wahnsinnige, nun alles zerstört
hätte. Aber seine Ansichten
waren mir überraschenderweise
völlig egal geworden.“ Auch
ihre Kinder schaffte sie lang-
sam aus der Familie des Man-
nes „herauszuschälen“. Mittler-
weile befinden sie sich in Aus-
bildung in Wien und Innsbruck.
Sarah selbst lebt nun alleine
mit ihrem neuen Lebensgefähr-
ten in Wien und fühlt sich ge-
schätzt. „Mittlerweile auch von
meinen Kindern. Darüber bin
ich am meisten glücklich.“
Martina Holzer
Die Familie brachte mich an
den Rand des Wahnsinns“