Schon bald nach den ersten Missions-
erfolgen durch die Apostel kam es zu Un-
mutsäußerungen unter den bekehrten grie-
chischsprachigen Juden aus der Diaspora,
die sich vor allem in der materiellen Ver-
sorgung ihrer Witwen und Waisen gegen-
über den Judenchristen Jerusalems be-
nachteiligt wähnten. Um sich selber für die
Verkündigung weiterhin freizuspielen, be-
riefen die Apostel sieben Männer „von
gutem Ruf und voll Geist und Weisheit“,
die für Verteilungsgerechtigkeit garantie-
ren sollten. Einer von ihnen war Stepha-
nus, wahrscheinlich ein Grieche, der
schon bald durch „Wunder und große Zei-
chen unter dem Volk“ von sich reden
machte. Das aber nährte Argwohn und
Eifersucht unter einigen „aus der soge-
nannten Synagoge der Libertiner“ (freige-
lassene Kriegsgefangene oder Sklaven),
Leuten aus der Provinz Kilikien (der Hei-
mat des Paulus von Tarsus) und anderer,
die schließlich gegen Stephanus vor dem
Hohen Rat Anklage erhoben. Der Vorwurf:
Die Berufung auf das Wort Jesu, er werde
den Tempel niederreißen und in drei Tagen
wieder aufbauen, opponiere wider die hei-
ligen Stätten und das Gesetz.
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In seiner Verteidigungsrede erteilt Ste-
phanus den Repräsentanten der jüdischen
Oberschicht erst einmal Geschichtsunter-
richt: Von Abraham und den Patriarchen
über Moses, das Gesetz und das Bundes-
zelt bis hin zu Salomon, der den ersten
Tempel erbaute, welcher als ständiger
Wohnsitz Gottes missdeutet wird. Denn
nach dem Wort des Propheten Jesaja resi-
diere der Höchste nicht in dem, was von
Menschenhand ist: „Was für ein Haus
könnt ihr mir schon bauen?“
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Das war eine
handfeste Attacke gegen die beiden pro-
minentesten Parteien Israels, die Pharisäer,
die – als die strengsten Beobachter des Ge-
setzes – quasi das Monopol auf die Schrift-
auslegung für sich beanspruchten, und auf
die Sadduzäer, weil die Infragestellung des
Tempelkults einem Angriff auf ihre kol-
lektive Existenz als Priesterkaste gleich-
kam. Die Errichtung eines „dritten Tem-
pels“ (nach jenem Salomons und dem des
den weiteren, für das Programm der Decken-
malereien relevanten Verlauf berichtet uns
eine Schrift, deren historische Zuverläs-
sigkeit allerdings nicht mit dem Neuen
Testament konkurrieren kann. Man zählt
sie daher zu den Legenden, aus denen sie
gleichwohl als die „goldene“ herausragt:
die „Legenda Aurea“ des Dominikaner-
mönchs Jacobus de Voragine, aufgezeich-
net in den 1260er-Jahren. Danach wurde
der Leichnam von dem schon mit Jesus
selber befreundeten Nikodemus, Mitglied
des Hohen Rats, und dem rabbinischen
Lehrer Gamaliel auf dessen Acker bestat-
tet. Er war es auch, der 417 dem Priester
Lucianus erschien, um ihm das mittler-
weile in Vergessenheit geratene Grab des
Märtyrers zu zeigen. Als man dieses im
Beisein des Bischofs von Jerusalem öff-
nete, begann die Erde zu beben und sich
rings um das Grab ein süßer Duft zu ver-
breiten, durch den 70 Menschen von ihren
Gebrechen geheilt wurden.
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Die Pfarrkirche von Anras wurde nach
Plänen des Stubaier Priesters und Archi-
tekten Franz de Paula Penz, dem Tirol so
bedeutende Sakralbauten wie die Basilika
in Wilten verdankt, 1753 bis 1756 errich-
tet.
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Das „organisatorische Genie“
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Penz
hatte offenbar auch Verständnis für die
Situation des aus Telfs gebürtigen Anton
Zoller, der in der Pfarrkirche seiner Hei-
matgemeinde schon 1740 eine Probe sei-
nes Könnens auf dem Gebiet der Wand-
malerei abgelegt hatte. Nach einem Auf-
enthalt als Theatermaler in Kärnten jedoch
musste Zoller ganze neun Jahre warten, bis
er 1753 in Hall i. T. die Bürgeraufnahme
erhielt, nur um dort Joseph Adam Mölck
mit dem prominentesten Auftrag, der Fres-
kierung der Stadtpfarrkirche, betraut vor-
zufinden.
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Dass er auch für die Deckenbe-
malung in Anras nicht berücksichtigt
wurde, mag aber darin begründet sein,
dass Penz ihn in sein Projekt der fast
gleichzeitig erbauten Pfarrkirche St. Pan-
kratius in Telfes im Stubaital von Anfang
an einbezog. In der Pfarrkirche St. Ulrich
in Obertilliach arbeiteten Penz und Zoller
1762 bis 1764 letztmalig zusammen. In
NUMMER 12/2017
85. JAHRGANG
OSTTIROLER
HEIMATBLÄTTER
H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “
Rudolf Ingruber
„Ich sehe den Himmel offen …“
Martin Knollers Fresken in der Pfarrkirche St. Stephan in Anras
Pfarrkirche St. Stephan in Anras, erbaut
von Franz de Paula Penz, 1753 bis 1756,
Ansicht von Südosten.
Foto: Robert Hatzer
Herodes), im jüdischen Verständnis mit
dem messianischen Zeitalter verbunden,
mit Jesus von Nazareth zu assoziieren,
aber war Gotteslästerung, und auf die
stand die Todesstrafe. „Die ganze Ge-
meinde soll ihn steinigen“, heißt es in Le-
vitikus 24,16, und so geschah es auch. Be-
zeugt wurde die Hinrichtung durch einen
jungen Mann, der damals noch Saulus
hieß. Geradezu prophetisch aber war das
Zeugnis des Stephanus: „Ich sehe den
Himmel offen und den Menschensohn zur
Rechten Gottes stehen.“
3
Soweit die Apostelgeschichte. Zusam-
mengefasst und auf seinen Höhepunkt zu-
gespitzt erscheint der Bericht in dem von
Anton Zoller 1756 gemalten Hochaltarbild
der Pfarrkirche St. Stephan in Anras. Über