VERGANGENHEIT
PUSTERTALER VOLLTREFFER
APRIL/MAI 2016
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haben sie sich ihr erstes Ta-
schengeld verdient.
Eines Tages kam ein Tourist
ins Haus, welcher besonders gro-
ßes Interesse an Vaters Schnitze-
reien zeigte. Groß war die
Freude, als er alles aufkaufte,
was da war. Den ganzen Koffer-
raum seines Autos belud er mit
den Schnitzereien des Vaters.
Er hieß Hoffmann, war Anti-
quitätenhändler und kam aus
Nürnberg. Natürlich hatten wir
keine Ahnung, wo das war, die-
ses Nürnberg, irgendwo in
Deutschland halt. Er kam nicht
nur einmal, sondern Jahr für
Jahr, immer wieder, oft auch
zweimal im Jahr. Und er begann
zu schreiben und Sachen imVor-
aus zu bestellen. Der Absatz von
Vaters Schnitzereien in seinem
Geschäft in Nürnberg muss wohl
aufgeblüht sein. „Der Hoffmann
kommt, der Hoffmann kommt!“,
so jubelten wir, wenn er sich an-
kündigte. Sein Kommen war
gleichbedeutend mit: Frisches,
bitter benötigtes Geld kam ins
Haus, und Hoffmann brachte au-
ßerdem auch noch Geschenke
mit. Nürnberger Lebkuchen und
Schokolade zum Beispiel, Spiel-
sachen, einmal ein Radio, das
dann 30 Jahre lang oder noch
länger in unserer Stube stand.
Das Radio war ein riesiger lak-
kierter Holzkasten, dessen Vor-
derseite mit beigefarbenem Stoff
bespannt war, hinter dem sich
die Lautsprecher verbargen.
Unten waren die weißen Schalt-
tasten und die Regler unterge-
bracht. Das Radio wurde für uns
das Tor zur Welt.
Vater hörte immer die Nach-
richten und natürlich den Wet-
terbericht im „Schweizer“. Der
Sender war der Beste, was die
Vorhersagen für das Wetter be-
traf. Alle schworen damals auf
lichen Mantel auf den Weg in die
Schule. Was würden meine Mit-
schüler sagen, wenn ich in dem
glänzenden Lackungeheuer vor
ihnen auftauchte? Ich hatte schon
die Hälfte des Weges hinter mir,
als ich beschloss umzudrehen,
um mich des Lackmantels zu
entledigen. Doch Mutter hatte
mich offensichtlich beobachtet.
Sie rief mir vom Balkon aus zu:
„Schnell, lauf, der Bus fährt dir
davon!“ Da blieb mir nichts an-
deres übrig, als zur Haltestelle zu
laufen und mich der Meinung
meiner Mitschüler zu stellen.
Alle haben merkwürdig ge-
schaut, und gelobt hat diese glän-
zende Missgeburt niemand.
Mein Vater und Robert saßen
Winter für Winter in der Stube
beisammen und schnitzten, an
einem alten Tisch sitzend, mun-
ter drauflos. Das lief nicht immer
harmonisch ab, denn sie stritten
sich oft furchtbar über banale
Dinge. Robert war gerade in der
Pubertät und wollte Vaters Mei-
nungen nicht zustimmen. Auch
Vater beharrte stur auf seinen
Standpunkten. Manchmal floss
auch Blut, wenn dem einen oder
dem anderen wieder aus Un-
achtsamkeit ein Schnitzeisen in
die Hand oder ins Bein gefahren
war. Mutter musste sie oft ver-
arzten und verbinden.
Eines muss ich noch erzählen:
wie Vater versucht hat, Hoff-
mann eine Schnitzerei als „Anti-
quität“ anzudrehen. Hoffmann
fragte nämlich Vater öfters, ob er
denn nichts Altes hätte, eine Sta-
tue, eine Maske oder ein Kruzi-
fix zum Beispiel. Da muss sich
Vater wohl gedacht haben:
„Wenn ich schon keine habe,
stelle ich halt eine Antiquität
her.“ Er schnitzte eine Fas-
nachtsmaske und kam auf die
grandiose Idee, sie in der Jau-
chegrube zu versenken. Dort
blieb sie über ein halbes Jahr
lang liegen. Als sie Vater wieder
ans Tageslicht holte, war sie dun-
kelbraun, wurmstichig und stank
erbärmlich nach Kuhfladen und
Jauche. Aber sie sah wirklich
antik aus, ich schwöre es. Als
Vater diese „Antiquität“ Hoff-
mann präsentierte, muss er wohl
die ganze Geschichte durch-
schaut haben. Er blickte skep-
tisch, roch an der Maske, verzog
den Mund und sagte: „Die muss
dir wohl in die Jauchegrube ge-
fallen sein, schade.“ Vater wurde
kleinlaut und sagte nichts darauf,
aber Hoffmann zahlte tatsächlich
einen höheren Preis wie ge-
wöhnlich. Er zog dabei wohl Va-
ters besondere Mühen in Erwä-
gung. Dieser hat sich furchtbar
geschämt, und er hat nie wieder
eine solche „Antiquität“ für
Hoffmann hergestellt.
den „Schweizer“, während der
„Bozner“ im Ruf stand, rein gar
nichts vom Wetter zu verstehen.
Da konnte man gleich Lotto
spielen, sagten alle, die Bozner
Meteorologen nahm keiner ernst.
Was für eine Freude hatten wir
mit unserem Radio. Auch Mutter
wurde zur begeisterten Radio-
hörerin. Mir ist in lebhafter
Erinnerung, wie sie, wenn ihr
Temperament wieder einmal mit
ihr durchgegangen ist, Cree-
dence-Clearwater-Revival-Hits
wie „The midnight special“ und
„Green river“ lauthals mitgesun-
gen hat – in einem „Englisch“,
von dem sie natürlich keine Ah-
nung hatte. Dabei hat sie in der
Stube herumgetanzt und wir mit
ihr. Dies sind die heitersten und
schönsten Momente mit Mutter,
an die ich mich erinnern kann.
Hoffmann schickte auch zwei-
mal im Jahr ein großes Paket mit
gebrauchten Kleidern. „Die
Stille Hilfe“, sagte Vater, „und
noch vor zehn Jahren haben die
Deutschen Pakete von den Ame-
rikanern bekommen, als ihr
Land nach dem Krieg in Trüm-
mern lag. Nun schicken sie uns
Pakete. Wie sich die Zeiten doch
ändern.“ Wir Kinder waren we-
niger begeistert über die Pakete
der Stillen Hilfe, denn die Ge-
brauchtkleider trafen nicht ge-
rade unseren Modegeschmack.
Außerdem rochen sie so ko-
misch. Aber Mutter war offen-
sichtlich froh darüber, denn eini-
ges war durchaus zu gebrauchen.
Als Flickstoff zum Beispiel, an-
sonsten zerschnitt sie die Kleider
in schmale Streifen und ließ Tep-
piche daraus „wirken“.
Einmal schickte Hoffmann ein
Paket mit Kleidern, in dem sich
auch ein weißer, glänzender
Lack-Kunstledermantel befand.
Wir fanden ihn einfach nur ab-
scheulich, doch Mutter behaup-
tete das Gegenteil. Sie zwang
mich regelrecht dazu, ihn anzu-
ziehen. Mit größtemWiderwillen
machte ich mich in dem scheuß-
Konrad Stegers Vater beim
Schnitzen, ca. 1975.
Die Steger-Buben beim Schwedenreitermachen, 1971.
St. Jakob um 1960, die Siedlung „Gisse“ gab es noch nicht. Zu
sehen Kornfelder und Kartoffeläcker.