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Musikgeschichtliche Zusammenhänge
werden erst objektiv überschaubar auf dem
Fundament wissenschaftlicher Erschlie-
ßung und Dokumentation von Quellen. Zu
den bedeutsamsten Quellen von Musik
zählen die Musikhandschriften, denn aus
ihnen sind sachliche Aufschlüsse über ver-
schiedenste Phänomene der Musikge-
schichte zu gewinnen, über Komponisten
und ihre Werke, über Aufführungsmoda-
litäten und Rezeptionsgeschichte, über
Musiker und ihr ästhetisches Verständnis
oder etwa die sich epochal bzw. regional
verändernde Handhabung von Musikin-
strumenten.
Mit Unterstützung der Kulturabteilung
der Tiroler Landesregierung wurde nun in
Innsbruck der „Tiroler Musikkataster“ in-
stitutionalisiert. Er hat seinen dringlichen
Auftrag in der sachverständigen Sichtung,
verläßlichen Inventarisierung und Kon-
servierung unwiederbringlichen musikali-
schen Kulturguts des Landes Tirol zu er-
füllen. Ein Schwerpunkt wird auf der Ka-
talogisierung von Musikhandschriften
tirolischer Bestände liegen. Das erste Ar-
beitsprojekt des Tiroler Musikkatasters bil-
dete die Katalogisierung der Musikhand-
schriften der Pfarrkirche und der Musik-
kapelle Vils im Außerfern.
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Dem schließt
sich derzeit die Katalogisierung der Musi-
kalien des Stiftes Stams an. Sukzessive
werden nebenher verschiedene Notenbe-
stände in ganz Tirol, vorerst kursorisch, er-
kundet, um einerseits einen Überblick über
die Gegebenheiten in Tirol zu gewinnen
und andererseits zu verhindern, daß auch
in unseren Tagen einmalige Zeugnisse ti-
rolischer Musikkultur aus Unkenntnis,
Sorglosigkeit oder Reformbeflissenheit
weiter abhanden kommen.
Im März 1993 hat die Verfasserin in Sil-
lian alte, außer Gebrauch gekommene Mu-
sikalien der Pfarr- und Dekanatskirche
vollkommen verdreckt in einem Stadel in
überaus großer Unordnung vorgefunden,
durchgesehen, als erstes großzügig Hand-
schriften und Drucke separiert. Dabei
zeichneten sich folgende Eigentümlich-
keiten des Bestandes ab:
Vorhanden sind 4 Handschriften aus den
Jahren ca. 1890 bis ca. 1900, ca. 50 Hand-
schriften aus der ersten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts, ca. 50 Drucke aus dem 19. Jahr-
hundert, ca. 250 Drucke von Anfang bis
Mitte des 20. Jahrhunderts.
Diese Zahlen sind nur annähernde
Richtwerte, da verschiedene Titel durch-
einander lagen und möglicherweise noch
teilweise verblieben, leere oder falsch bei-
gegebene Umschläge bzw. Titelblätter so-
wie zahlreiche, oftmals zerrissene Einzel-
blätter enthalten sind.
In Sillian wurden so gut wie alle Mate-
rialien älterer Kirchenmusik vernichtet. Es
kann jedoch von einigen Daten der erhal-
tenen, relativ neuen Musikalien geschlos-
sen werden, daß zumindest im 19. Jahr-
hundert eine beachtliche Anzahl von No-
ten vorhanden gewesen sein muß und die-
se wohl auch in der Praxis verwendet wur-
den. So trägt ein Libera von Johann Ober-
steiner (Innsbruck-Brixen: Gross, ca.
1880) den handschriftlichen Vermerk:
„Der Kirche Inv. No 262“, ebenso das
Opus 8 von Bernardin Engl (Innsbruck:
Gross, ca. 1880): „Inv. No 274…(?)“. Ei-
nem Druck mit Liedern von Josef Lutz ist
ein handschriftlicher Umschlag beigege-
ben, dessen Rückseite eine alte, nicht mehr
verwendete Bläserstimme aus der Mitte
des 19. Jahrhunderts bildet. Demnach wa-
ren Bläser auf dem Kirchenchor tätig. Mit
einem Nagiller-Druck (ca. 1860/70) ist die
seinerzeitige Mitwirkung von Streichern
belegt, ebenso mit einem Te Deum Franz
Bühlers (Augsburg: Böhm o. J. 674). Die-
ses weist die alte Signatur auf: „Inv. No
144. dem Vereine“. Ungeklärt ist, ob sich
der „Verein“ auf den Sillianer Kirchenchor
selbst bezieht oder eine andere Gemein-
schaft (vgl. u.).
Durch Zufall blieb das erste Blatt eines
handschriftlichen Umschlages von etwa
1880 samt Titel („Rhömische Choral-Pan-
gelingua…“ für vierstimmigen Chor und
Orgel) erhalten, denn es wurde – gefaltet –
für einen neuen Druck als Hülle umfunk-
tioniert. Einerseits belegt dieser Titel, daß
der Cäcilianismus auch hier Fuß gefaßt
hatte, andererseits verraten der Schreiber-
und Besitzvermerk „Richard Würzer“ den
Namen eines damals der Kirchenmusik in
Sillian verbundenen Mannes, desgleichen
der spätere Besitzvermerk: „Ad me Ig.
Wierer (?)“.
Der Bestand umfaßt vorwiegend liturgi-
sche Gebrauchsmusik (Messen, Litaneien,
Te Deum, Herz Jesu-, Marien- und Pre-
digtlieder, wenige Proprien, Gesänge für
Hochzeiten und Begräbnisse), Orgel-
stücke, dazu einige Stimmbücher für Män-
nerchor. Die bevorzugte Reihe der
Cäcilianer „Musica ecclesiastica…“, her-
Nummer 2/1994
62. Jahrgang
OSTTIROLER
HEIMATBLATTER
H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “
Hildegard Herrmann-Schneider
Prägnante Zeugnisse des Cäcilianismus
in Tirol – Musikalien aus der Pfarrkirche Sillian
Sillian, Pfarrkirche zu Unserer Lieben
Frau Mariae Himmelfahrt, um 1905.
Foto: Joh. F. Amonn, Bozen