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O s t t i r o l e r H e i ma t b l ä t t e r
63. Jahrgang — Nummer 2
So erreichte schließlich das Bürgerhaus
im ausgehenden 15. bzw. im 16. Jahrhun-
dert seine endgültige Form.
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Ein besonderes Merkmal der Außenan-
sicht eines Lienzer Bürgerhauses waren die
parallel zu den Straßenachsen verlaufenden
Traufkanten. Dies ergab mehrere Vorteile
für den Bewohner und das Haus. Da nun
das Wasser vorne auf die Straße und hinten
auf den Hof geleitet werden konnte, wur-
den die Mauern zwischen den Häusern, an
denen ansonsten die Traufkanten verlaufen
wären, vor der für das Mauerwerk sehr
schädlichen Feuchtigkeit geschützt.
Da somit die Ostmauer eines Hauses zu-
gleich die Westmauer des Nachbarhauses
war, konnte auch noch eine Mauer einge-
spart werden, was den Bürgern aus finan-
ziellen Erwägungen natürlich nicht unge-
legen kam. Ein anderer, ganz wesentlicher
Vorteil, den die traufseitige Stellung des
Gebäudes bot, war, daß nun die Längssei-
te des Hauses parallel zur Straße verlief.
Dies bedeutete mehr Licht in den vorderen
Räumen des Hauses, in denen meistens die
Werkstätten untergebracht waren. So
konnten die Handwerker mehr Zeit am
Tag mit der Arbeit verbringen und mehr
Waren produzieren.
Weitere Merkmale für das Bürgerhaus
waren der Mittel- und Seitenflur. Bei Er-
sterem ordneten sich die Räume auf beiden
Seiten des Ganges an. Beim Seitenflur ver-
lief der Flur entlang einer Hausmauer, und
rechts oder links von ihm lagen die Räu-
me. Diese Flurart war in Lienz stärker ver-
breitet, da innerhalb der Stadtmauer und in
der Schweizergasse die Bürgerhäuser oft
sehr schmal waren und ein Mittelflur aus
Platznot nicht in Frage kam. Ein gutes Bei-
spiel hiefür ist das Wiesentheinerhaus.
Auch hier war ein Mittelflur wegen der ge-
ringen Breite nicht möglich. So wurde der
Seitenflur auch noch nach den zahlreichen
Veränderungen immer wieder beibehalten.
Das weitere Aussehen des Bürgerhauses
wird im Zusammenhang mit dem Wie-
sentheinerhaus etwas genauer betrachtet.
Ein Brand zerstört große Teile
der Stadt
Ein ganz entscheidender Faktor bei der
Entwicklung des Bürgerhauses waren die
zahlreichen Brände, von denen Lienz im
Laufe seiner Geschichte immer wieder
heimgesucht wurde. Besonders unange-
nehm wird der Brand von 1609 immer in
Erinnerung bleiben.
Am 8. April des Jahres 1609 wurde Lienz
von einer derart großen Feuersbrunst erfaßt,
daß beinahe die ganze Stadt in Schutt und
Asche gelegt wurde, „...darunter gut Etlich
von Adel und burgersleut...”. Dieser Brand
war auch der Hauptgrund dafür, daß vom
Landesfürsten in Innsbruck eine „Feuer-
ordnung für die Stadt Lienz“ erlassen wur-
de, die vornehmlich Baubestimmungen ent-
hielt: Vorkragende Dächer wurden ver-
boten und Zinnen- und Mantelmauern vor-
geschrieben. Alle Bauten, eingeschlossen
die Wirtschaftsgebäude, mußten aus Stein-
mauern errichtet werden.
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Auch wenn Brunnen und Zisternen im
16. Jahrhundert schon vermehrt vorhanden
waren, so war es dennoch unmöglich, gegen
die Brände erfolgreich zu sein. Der Trans-
port des Wassers mit Lederkübeln bis zu
den brennenden Objekten dauerte zu lange.
Die vielen Brände hatten aber auch Aus-
wirkungen auf das Stadtbild im allgemei-
nen. Lienz weist als einzige der Tiroler
Städte fast keine Erker und Lauben auf.
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(Die wenigen Lauben, die es in Lienz gibt,
sind erst im 20. Jahrhundert entstanden.)
Die Bürgerhäuser waren seit jeher reine
Zweckbauten. So hatten auch die wech-
selnden Baustile fast keinen Einfluß auf
das äußere Bild der Bauten in Lienz.
Die bauliche Entwicklung
des Wiesentheinerhauses bis zum
Ende der Herrschaft des Damenstiftes
Hall (1783)
Das genaue Datum, an dem das Wie-
sentheinerhaus entstanden ist, kennt man
nicht, doch wurde der älteste Raum im
Rahmen einer bauanalytischen Untersu-
chung wegen seiner Mauerstruktur und
Mauerstärke der Mitte des 13. Jahrhun-
derts zugeordnet.
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Dieser Raum 1 (s. Abb. 3) war daher die
erste Ausprägung des Hauses. Da aber an
der Südwand des Raumes eine Eckausbil-
dung des Mauerwerks des 13. Jahrhun-
derts fehlte, ist es offensichtlich, daß sich
die Hausfront zur damaligen Zeit weiter
südlich auf dem Hauptplatz befand. Das
Wiesentheinerhaus war allerdings keine
Ausnahmeerscheinung in dieser Bezie-
hung. Auch die meisten der anderen Häu-
ser ragten weiter in den Hauptplatz hinein.
So versuchten die Bürger noch mehr am
öffentlichen Leben teilzuhaben.
Ein anderer Grund war sicherlich, daß
sie so besser ihre Waren anbieten konnten.
Wann die Regulierung stattgefunden hat,
ist nicht genau überliefert.
Doch wird angenommen, daß sich dies
schon im 13. Jahrhundert ereignete. Das
würde bedeuten, daß diese „Unordnung“
den Bürgern nicht allzu sehr behagte und
daher rasch abgeändert wurde.
Der Raum 1, das Kernstück des Hauses,
war in früherer Zeit noch in zwei Teile
geteilt (s. Abb. 5). Die archäologischen
Untersuchungen ergaben hier zwei be-
sonders interessante Entdeckungen.
Die erste waren die vier Kanthölzer, die
als Auflage für einen Bretterboden dien-
ten.
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Dies ist deshalb etwas ungewöhnlich,
weil Bretterböden fast ausschließlich in der
Küche und der Stube zu finden waren, der
Raum 1 jedoch als Werkstätte diente. In
der Küche und der Stube hatten sie wohl
den Zweck, die Wärme im Raum zu halten.
Während Stein- bzw. Naturböden sie ver-
flüchtigen ließen. Offensichtlich war auch
der Raum 1, in dem sich im Nordosteck ein
Kamin befand, beheizt, und so hatte der
Bretterboden wohl den oben erwähnten
Zweck zu erfüllen. Seit wann dieser Boden
im Raum 1 bestand, ist nicht geklärt.
Es ist schon schwierig genug, das Alter
von Hölzern und Brettern zu bestimmen.
Dazu kommt noch, daß der Bretterboden im
Laufe der Zeit des öfteren ausgetauscht
wurde. Ist er aber im Zusammenhang mit
dem Kamin entstanden, kann man ihn zeit-
lich ungefähr zuordnen. Zwar ist das genaue
Alter des Kamins nicht bekannt, doch dürf-
te er mit großer Wahrscheinlichkeit noch
vor dem Barock entstanden sein, also um
1600.
Die zweite interessante Erscheinung wa-
ren die Brandschichten. Sie stammten aus
dem 18. Jahrhundert, wobei jedoch nicht
geklärt ist, ob sie von einem Stadtbrand
herrührten (z. B.: „1723 – 26. Mai: die
ganze Stadt innerhalb der Ringmauer wird
mit Ausnahme von 4 Objekten ein Raub
der Flammen...“
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) oder nur eine Folge der
Ausübung bestimmter Handwerke, wie
zum Beispiel dem des Kesslers oder des
Schlossers, waren.
Wie schon erwähnt, war der Kernbau
des Wiesentheinerhauses die Werkstätte
des Hauses. Dieser gegen Süden gerichte-
te Raum war durch viel natürliches Licht
begünstigt und daher für die Ausübung des
Handwerkes hervorragend geschaffen.
Das Sonnenlicht war von enormer Wich-
tigkeit. Die anderen Lichtquellen, wie
Talg-, Kerzenlicht oder Kienspäne waren
ziemlich selten, und stellten eine große
Brandgefahr dar. Durch die Möglichkeit,
das natürliche Licht der Sonne in diesem
Raum voll ausnützen zu können, konnte
der Bürger länger arbeiten und folglich
auch mehr produzieren. Daß die Räume
des Obergeschoßes für die Ausübung des
Handwerkes nicht in Frage kamen, ist klar.
Jeder Käufer hätte, um zu den Waren zu
gelangen, durch das ganze Haus gehen und
Abb. 2:
Grundriß eines
typischen
Lienzer
Stadthauses,
Zeichnung
Peter Sölder.
In „Lienz –
Das große
Stadtbuch“ von
M. Pizzinini