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VOLKSHEILKUNDE

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PUSTERTALER VOLLTREFFER

NOVEMBER/DEZEMBER 2015

Herr Achmüller, Sie erwäh-

nen in Ihrem Buch, dass Südti-

rol zu jenen Regionen des Al-

penraumes gehört, in denen be-

sonders viel Wissen rund um

Kräuter und Heilverfahren ge-

sammelt und bewahrt wurde?

Achmüller:

„Ja. Gerade

während des Faschismus und in

den Nachkriegsjahren sammel-

ten Volkskundler – wohl aus

Angst, das kulturelle Erbe vol-

lends zu verlieren – volksmedi-

zinische Ratschläge und Thera-

piemöglichkeiten. Und weil

Südtirol lange Zeit medizini-

sche unterversorgt war, hielt

sich bis ins 20. Jahrhundert ein

besonders starker Laiensektor.“

Was war früher die Grund-

lage für die Behandlung der

Menschen?

pochenden Schmerzen, son-

dern vielmehr als harmlose Er-

scheinung.“

Wie wollte man die Dämo-

nen vertreiben?

Achmüller:

„Unter anderem

durch Sprüche. Etwa im 19.

Jahrhundert wollte man in der

Steiermark mit folgendem

Spruch das Fieber senken:

‚Nussbaum! Ich komm zu dir,

nimm‘ die 77erlei Fieber von

mir, ich will dabei bleiben.‘

Arnold Achmüller aus

dem Pustertal beschäf-

tigt sich seit Jahren mit

der alpinen Kräuterkunde

und alten Heilverfahren.

Der 33-jährige Apotheker

fasste sein Wissen jetzt

im kürzlich erschienen

Buch „Wickel, Salben

und Tinkturen“ zusam-

men. Der Experte im

„PVT“-Interview.

Handlungen und Rituale in

der Volksmedizin wieder?

Achmüller:

„Viele gehen

auf den Versuch zurück, Krank-

heit und Gesundheit zu erklä-

ren. Nennen wir etwa Bakterien

und Viren, die Auslöser ver-

schiedener Infektionskrankhei-

ten sind. Vor 200 Jahren waren

dies Dämonen, die von einem

Infizierten zum nächsten über-

springen. Diese Dämonen, die

auch für andere Krankheiten

und vor allem Schmerzen ver-

antwortlich gemacht wurden,

galt es zu bändigen und zu ver-

jagen.“

Welcher Dämon war denn

besonders beängstigend?

Achmüller:

„Der sogenannte

Wurm. Dieser, so der Volks-

glaube, löse vor allem pulsie-

rende und stechende Schmer-

zen aus. Der Wurm diente zur

Erklärung mehrerer Krank-

heitsbilder. So löste der Finger-

wurm die Nagelbettentzündung

aus, der Herzwurm ist als Gas-

tritis zu deuten und der Zahn-

wurm war für Zahnschmerzen

verantwortlich. Die auch heute

noch gebräuchliche Redewen-

dung ‚da ist der Wurm drinnen’

bezieht sich auf diese Vorstel-

lung. Auch der Begriff ‚Ohr-

wurm’ ist bis heute noch erhal-

ten geblieben, allerdings nicht

mehr in Zusammenhang mit

Arnold Achmüller aus dem Pustertal schrieb ein spannendes Buch

über altes Kräuterwissen.

Achmüller:

„Die Säftelehre.

Optimal war, wenn die vier

menschlichen Säfte Blut, gelbe

Galle, schwarze Galle und

Schleim zueinander im Gleichge-

wicht standen. Ein Überhang von

einem oder mehreren dieser Säfte,

war demnach der Ausgangspunkt

für Krankheit. Den vier Säften

wurden auch die vier Eigenschaf-

ten warm, trocken, feucht und kalt

zugeordnet. Ein bestehendes Un-

gleichgewicht wurde mit Heilmit-

teln, Diät oder diversen Auslei-

tungsverfahren wie Schwitzkuren,

Aderlass, Schröpfen, Brechmitteln

oder Einläufen behandelt.“

Die Säftelehre war also eine

Medizinlehre, in der der

Mensch ganzheitlich gesehen

wurde?

Achmüller:

„Ja, in der nicht

nur Symptome behandelt wur-

den. Sie war 2.000 Jahre lang

die zentrale Vorstellung in der

Heilkunde Europas. Die Volks-

heilkunde des Alpenraumes

war somit Teil einer traditionell

europäischen Medizin.“

Warum fanden sich auch

immer magische und religiöse

Ursula Steinkasserer, die Paßler

Ursche, aus dem Antholzertal

war eine berühmte Heilerin.

Johann Ragginer,

der als bekannter

Bauernarzt tätig

war, mit seiner

Frau.

„In Südtirol ist besonde