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Als am 4. März 1204 der Neu- bzw.
Erweiterungsbau von St. Andreas zu
Lienz geweiht wurde, hielt ein Zeitgenosse
das Ereignis in einem kurzen lateinischen
Bericht fest. Er lautet:
Anno ab incarnatione domini M
o
CC
o
IIII
o
,
indictione VII
a
, epactarum XVII
a
, concur-
rente IIII
a
, IIII
o
Nonas Martii, consecrata
est hec ecclesia a venerabili Polensis
ecclesie episcopo Johanne, annuente et
consentiente sancte Salzburgensis sedis
Eberhardo II
o
, in honore domini nostri Jesu
Christi et victoriosissime crucis ac sancte et
perpetue dei genitricis virginis Marie et
omnium sanctorum et precipue in honore
sancti Andree apostoli. Continentur autem
hic reliquie de indumento domini, de se-
pulcro domini, de vestimentis sancte
Marie, de mensa sancte Marie, Johannis
baptiste, Johannis ewangeliste, de cruce
Andree apostoli, Bartholomei apostoli,
Stephani prothomartyris, Laurentii marty-
ris, Vincentii martyris, Viti martyris, Ur-
bani martyris, de capite sancti Pangratii
martyris, Marci et Marcelliani martyris,
Zacharie prophete, Martini confessoris
atque pontificis, Marie Magdalene, Juliane
virginis, Margarete virginis, undecim mi-
lium virginum.
Eodem die dedicatus est altare minus in
honore sancti Oswaldi regis et martyris, in
quo continentur reliquie sancte crucis,
Lamperti martyris, Johannis et Pauli, Marii
martyris, Nicolai confessoris atque pontifi-
cis, Anthonii confessoris et monachi,
Udalrici confessoris atque pontificis, Ana-
frede virginis.
1
In etwas freier deutscher Übersetzung
heißt das:
Im Jahr von der Menschwerdung des
Herrn 1204, in der 7. Indiktion, in der 17.
Epakte, im 4. Konkurrenten, am 4. Tag
vor den Nonen des März [= 4. März],
wurde diese Kirche, die zu Ehren unseres
Herrn Jesus Christus, des siegreichsten
Kreuzes, der heiligen und allzeit jung-
fräulichen Gottesgebärerin Maria und aller
Heiligen, besonders aber zu Ehren des
heiligen Apostels Andreas errichtet ist,
vom ehrwürdigen Bischof Johannes von
Pola mit Erlaubnis und Zustimmung des
Salzburger Erzbischofs Eberhard II. ge-
weiht. Hier [im Hauptaltar] werden auch
die Reliquien vom Gewand des Herrn,
vom Grab des Herrn, von den Kleidern
der hl. Maria, vom Tisch der hl. Maria ge-
borgen, [ferner Reliquien] Johannes‘ des
Täufers, Johannes‘ des Evangelisten,
vom Kreuz des Apostels Andreas, des
Apostels Bartholomäus, des Erzmärtyrers
Stephan, des Märtyrers Laurentius, des
Märtyrers Vinzenz, des Märtyrers Vitus,
des Märtyrers Urban, vom Haupt des hl.
Märtyrers Pankratius, des Marcus und des
Märtyrers Marcellianus, des Propheten
Zacharias, des Bekenners und Bischofs
Nummer 2 – 72. Jahrgang
O s t t i r o l e r H e i m a t b l ä t t e r
Robert Büchner
Die Lienzer Weihenotiz von 1204
und der Reliquienkult im Mittelalter
Martin, der Maria Magdalena, der Jung-
frau Juliana, der Jungfrau Margarete und
der 11.000 Jungfrauen.
Am selben Tag wurde der zu Ehren des
hl. Königs und Märtyrers Oswald errich-
tete Nebenaltar geweiht, in dem die Reli-
quien des hl. Kreuzes, des Märtyrers Lam-
bert, Johannes’ und Pauls, des Märtyrers
Marius, des Bekenners und Bischofs Ni-
kolaus, des Bekenners und Mönches An-
tonius, des Bekenners und Bischofs Ulrich
und der Jungfrau Anafreda eingeschlossen
werden.
Auf der Rückseite der Notiz findet sich
folgender Vermerk aus der Zeit um 1300:
Et sciendum, quod omnia, que continen-
tur in ista pagina, sunt habita ante tempus
magistri Dyonisii de Britannia, plebani
huius ecclesie. Alia autem privilegia, reli-
quie sanctorum, indulgencie, libertates fue-
runt per ipsum Dyonisium vel eius tempore
acquisita.
Auf Deutsch:
Man sollte wissen, dass alles, was auf der
[Vorder-]Seite verzeichnet ist, vor der Zeit
des Magisters Dyonisius von Britannien
[Bretagne?], Pfarrers dieser Kirche, erlangt
wurde. Andere Privilegien aber, Reliquien
von Heiligen, Ablässe und Freiheiten
wurden von Dyonisius selbst oder zu seiner
Zeit erworben.
2
Die Nachricht von der 1204 erfolgten
Konsekration der Andreaskirche ist keine
förmliche Weiheurkunde, ausgestellt,
unterfertigt und gesiegelt vom Weihbi-
schof, doch sie enthält alle wesentlichen
Merkmale eines solchen Dokuments, so
dass man trotz der etwas sorglosen Ausfer-
tigung nicht an ihrer Echtheit zweifelt. Der
Autor der Weihenotiz ist unbekannt. Es
dürfte sich, dem hochmittelalterlichen Bil-
dungsstand entsprechend, um einen Geist-
lichen gehandelt haben, vermutlich um den
damaligen Pfarrer von St. Andrä. Wer denn
sonst als er hätte ein Interesse daran gehabt,
den anscheinend nicht beurkundeten
Weiheakt schriftlich festzuhalten und der
Nachwelt zu überliefern?
Einige der aufgezählten Reliquien sind
sehr interessant. Nach christlicher An-
schauung
3
wirkt in den irdischen Reliquien
eines Heiligen die Heilskraft (virtus), die
ihm im Himmel zuteil geworden ist. Des-
halb können Reliquien Wunder wirken, sie
sind geradezu „lebendig“, sind der Heilige
selbst. Diese besondere Gnade, die Märtyrer
und Heilige erfahren, zeigt sich oft daran,
dass bei Graböffnungen ihr Leichnam un-
verwest ist, gleichsam eine zweite Seele hat.
Vor dem 9. Jahrhundert war es nicht
üblich, ja galt sogar als frevelhaft, den
Leichnam eines Heiligen zu teilen. Bei ent-
haupteten Märtyrern akzeptierte man jedoch
Weihenotiz, die Pfarrkirche St. Andrä betreffend, die am 4. März 1204 von Bischof Jo-
hannes von Pola (Istrien) eingeweiht worden ist; Pergament, ca. 34,5 x 38,8 cm
(Pfarrarchiv Lienz, St. Andrä, Inv.-Nr. XX.1)
o