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Nummer 4 – 72. Jahrgang
O s t t i r o l e r H e i m a t b l ä t t e r
Die Beutelmeise wurde im Bezirk Lienz
noch nie brütend angetroffen. Daher fehlt
sie im Verbreitungsatlas der Brutvögel
Osttirols (MORITZ & BACHLER 2001).
Über den erstmaligen Brutnachweis wird
hier berichtet.
Am 14. Mai 2003 entdeckten die Auto-
ren 300 m westlich der Lavanter Drau-
brücke (650 m) im Ufergehölz ein Nest
dieser Vogelart. Es war geschickt in einen
Weidenbaum eingebaut. Ohne uns dem
Nest weiter zu nähern, stellten wir mit un-
serem Spektiv (20 bis 60fache Vergröße-
rung) bereits vom Wege aus fest, dass es
ein vollständig ausgebauter Neubau war.
Es war jedoch kein Altvogel zu sehen. Da
es sehr kalt und windig war, verließen wir
schnell das Beobachtungsgebiet, um die
Versorgung des Geleges oder bereits der
Jungen nicht zu erschweren.
Am Nachmittag des 15. Mai suchten K.
Dapra und D. M. den Brutplatz erneut auf
und studierten den Nestbau (Abb. 1). Es ist
ein kunstvoll gebautes Hängenest und hat
die Form einer oval gestreckten Kugel, ist
also beutelförmig. Es hängt frei über dem
Wasserspiegel in etwa 1,5 m Höhe an
einem dünnen Seitenast einer Silberweide
(Salix alba), der lang herabhängt.
Der Eingang zur Nisthöhle liegt seitlich
und ist etwas nach oben versetzt. Die Ein-
schlupfröhre führt schräg aufwärts, was
Regeneinfall verhindert. Von außen ist das
Nest hell und wirkt weich und flauschig.
Ein so kunstvoll gebautes Nest verdient
besondere Bewunderung. Wo die Beutel-
meise häufig brütet heißt es, ihre Nester
könnten Babysöckchen oder Schuhe für
kleine Kinder sein.
Bei unserem Besuch verließ nur zweimal
ein Altvogel das Nest und kehrte nach län-
gerer Zeit zurück. Nach zielsicherem An-
flug erfolgte sein Einschlüpfen so rasch,
dass nicht zu entscheiden war, ob wir das
Männchen oder das Weibchen beobachteten
(Abb. 2). Damit war klar, dass das Nest be-
nutzt und das Gelege noch bebrütet wurde.
Auch bei den nächsten Kontrollen am 20.
und 21. Mai waren die Beutelmeisen selten
zu beobachten und verhielten sich sehr
unauffällig. Als lebhafter Kleinvogel der
Busch- und Baumbestände von Teichen
und Flussufern ist sie ständig in Bewegung.
Die beiden Berichterstatter waren aber
nicht die ersten, die den Brutversuch ver-
folgten. Am 21. Mai teilte uns M. Gantsch-
nig mit, dass er den Nestbau seit Anfang
April verfolge. Er habe bisher aber vor-
sichtshalber niemand informiert. Das
Brutgeschehen verfolgte er aber weiter und
sah mehrfach einen fütternden Altvogel.
Etwa vom 23. Mai bis 12. Juni werden
die Jungen im Nest gefüttert. Am 8. Juni
sechsmal in 10 Minuten, am 12. Juni
sechsmal in 14 Minuten. Dabei wurde
immer nur ein Altvogel gesehen. Seine
Suche nach Futter für die Jungen erfolgte
jetzt im nahen Ufergebüsch, oft keine
50 m vom Nest entfernt. Ab 8. Juni schlüpft
der fütternde Altvogel nicht mehr ins Nest
(Abb. 3). Er sitzt kurz außen am Eingang,
wo ihm die Jungen entgegenkommen. Sie
dürften jetzt etwa 15 Tage alt sein.
Um uns über den neuen Brutvogel von
Osttirol genauer zu informieren, zogen wir
sofort die Fachliteratur zu Rate. Im
14-bändigen
Handbuch der Vögel Mittel-
europas
(Herausgeber U. N. GLUTZ
VON BLOTZHEIM 1966 bis 1997)
stammt die Bearbeitung der Beutelmeise
von FLADE & FRANZ (1993). Danach
haben wir uns gerichtet.
Die Beutelmeise hat die Größe der Blau-
meise. Ihr Gewicht beträgt etwa 10 g. In der
Färbung erinnert sie an den Neuntöter:
weißlich grauer Kopf mit schwarzer Ge-
sichtsmaske und braunem Rücken (Abb. 4).
Beim Männchen ist die Maske etwas grö-
ßer und der Rücken stärker rotbraun gefärbt
als beim Weibchen. Der Schnabel ist win-
zig und nadelscharf zugespitzt.
Die Familie der Beutelmeisen
Remizi-
dae
steht den Meisen
Paridae
recht nahe.
Aber sie hat Besonderheiten in ihrer Brut-
biologie. Weit verbreitet ist Polygynie: Ein
Männchen verpaart sich mit mehreren
Weibchen. Dann liegt also Vielweiberei
vor. Seltener wurde Polyandrie nachge-
wiesen, also Vielmännerei. Bei Brutpart-
nern besteht kaum eine Paarbindung. Die
Sexualität ähnelt also derjenigen des mo-
dernen Menschen. Ältere Männchen sind
eher polygyn als Einjährige. Polygyne
Männchen haben mehr Nachwuchs als
Männchen mit nur einem Brutnest.
Von der in Südost-Europa verbreiteten
Beutelmeise gelangten vor 100 Jahren eben
erwachsene Junge in Wien in den Vogel-
handel (HEINROTH 1924 bis 1931). Seit
1930 hat sie sich erheblich nach Westen
ausgebreitet. Nach 1950 erreichte sie über
Polen Norddeutschland (1965), die
Niederlande und Nord-Frankreich. Von
einem Verbreitungsschwerpunkt im Osten
Österreichs (Donau unterhalb Wien, Neu-
siedlersee) besiedelte sie Süd-Deutschland
(1965) und ab 1952 die Schweiz (HAGE-
MEIJER & BLAIR 1997; DVORAK,
RANNER & BERG 1993, GLUTZ VON
BLOTZHEIM 1964).
Vom Westen Österreichs stammen
folgende Erstmeldungen:
• Oberösterreich: erster Brutnachweis
Anfang der 1940er-Jahre (BRADER &
AUBRECHT 2003).
• Tirol: 1986 wahrscheinlicher Brutver-
such bei Inzing/Nordtirol mit Nestbau
und Territorialverhalten; H. Myrbach
(LANDMANN & LENTNER 2001).
• Vorarlberg: 1977 erster Brutnachweis im
Rheindelta (KILZER, AMANN &
KILZER 2002).
Auch im Bereich größerer Flusstäler
im südlicher gelegenen Alpenraum ist
sie inzwischen lokaler Brutvogel:
• Steiermark: 1980 erste erfolgreiche
Brut im Raabtal (SACKL & SAM-
WALD 1997).
• Kärnten: erste Nestfunde in den
1960er-Jahren (DVORAK, RANNER &
BERG 1993).
In Italien erweiterte sie ihr Areal im
Norden. In Südtirol gelang 1991 der erste
Brutnachweis bei Bruneck (NIEDER-FRI-
NIGER, SCHREINER & UNTER-
HOLZNER 1996).
Als Ursache für die Areal-Expansion
wird die Eutrophierung unserer Landschaft
angeführt: Durch überhöhten Nährstoffge-
halt sind viele Lebensräume überdüngt.
Das gilt besonders für Flusstäler, denen
lange Zeit Kläranlagen fehlten. Die
Brennnessel und der Wilde Hopfen nahmen
zu. Beide liefern Fasern, die zum Nestbau
benötigt werden. Ebenfalls profitierten
davon bevorzugte Nestbäume wie Weiden,
Birken, Pappeln, Erlen und Robinien.
Auf ihren Wanderungen wurde die Beu-
telmeise erstmalig im Jahr 1984 von ver-
schiedenen Beobachtern im Bezirk festge-
stellt:
8. April 1984: Ein Exemplar im Talbo-
den bei Dölsach;
14. April 1984: Drei Exemplare an der
Klingenlaue bei Lengberg (HEINRICHER
1984).
Annemarie Bachler – Dieter Moritz
Beutelmeise (Remiz pendulinus) – im Jahr
2003 erstmalig Brutvogel in Osttirol
Abb 1: Das Nest der Beutelmeise ist ein-
geflochten in einen lebenden Zweig einer
Silberweide.