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„Etliche Wochen nach Ostern
erschien Meister Simon wieder
auf Rabenstein. Er war dort mit
Freuden erwartet worden, denn
sein heiterer Sinn und seine
treuherzige Anhänglichkeit war
den Winter über allen abgegan-
gen. Der Kaplan lieh ihm gleich
den ersten Abend ein neues
Buch, das er erst kürzlich er-
worben hatte, ein Passional, das
in schönem Druck das Leiden
Christi und außerdem viele
Holzschnitte enthielt. Simon las
darin die halbe Nacht ...“
1
Um
für ein historisches Geschehen
Erklärungen anbieten zu kön-
nen, für die die Wissenschaft
keine Beweise bereithält, wech-
selt der Kunstgeschichtler ein-
fach das Genre. In Josef Wein-
gartners Roman „Das Burg-
fräulein von Rabenstein“ spielt
allerdings das Verhältnis der
Passionsfresken in der Wall-
fahrtskirche von Obermauern zu
dem beiläufig erwähnten und
nicht näher bezeichneten Druck-
werk bei weitem nicht jene
Rolle wie Simons von Taisten
Verhältnis mit der Titelfigur.
Dies auszugleichen ist das
Motiv der folgenden Zeilen.
Bilderschriftliche Texte, Dar-
stellungen also, die eine Ge-
schichte in einfachen ikonischen
Zeichen notieren, beschränken
sich imWesentlichen darauf, den
Abruf eines Wissens zu unter-
stützen, dessen Weitergabe nicht
so sehr durch das Bild als vielmehr im Me-
dium des Wortes erfolgt. Der Anspruch an
das Bild aber ändert sich, wenn es den Be-
schauer nicht nur an ein Geschehen erin-
nern, sondern ihn als Augenzeugen an die-
sem beteiligen, es ihm gleichsam auf einer
Bühne vorstellen soll.
2
Für die Wahrneh-
mung kirchlichen Bildschmuckes heißt das,
dass das Erlebnis sich vom gebauten Raum
in den Raum des Bildes verlagert. „Hier ist
schließlich das Zusammenwir-
ken gleichberechtigter, von der
Architektur emanzipierter Ein-
heiten ermöglicht.
Obwohl die Zentrierung des
Bildfeldes und die Konstitution
seines Raumes durch den
fixierten Blick des Betrachters
auch auf die für das neuzeit-
liche Bildverständnis so wich-
tige Entdeckung der Zentral-
perspektive zielen, wäre die
Gleichsetzung dieses Vorgan-
ges mit demWechsel von einer
kunstgeschichtlichen Epoche
zur nächsten eine grobe Verein-
fachung. Die Frage, ob Simons
Fresken noch der Gotik oder
schon der Renaissance angehö-
ren, ist nicht zu entscheiden,
zumal das Problem des Bild-
raumes, unabhängig von seiner
Lösung, seitens der Dekoration
einer gotischen Kirche und der
narrativen Funktion der Bilder
zu gleichen Teilen gestellt wird.
Es geht im Grunde um die Inte-
gration zweier voneinander
verschiedener Forderungen in
ein und dasselbe System. Das
gilt auch – und nicht zum Ge-
ringsten – für die gemalten
Architekturelemente, deren
größtes Rätsel zu sein scheint,
ob ihre nachträgliche Anbrin-
gung auch eine Änderung des
ursprünglichen Konzeptes der
Wandgestaltung bedeutet.
4
Der Charakter einer klassisch
gotischen Wand entspricht dem
eines Reliefgitters, das die plastische
Gliederung vor dem Licht- oder Dunkel-
grund der dahinter liegenden Räume auf-
baut.
5
Die Durchgängigkeit dieser Hülle
wird durch die Öffnungen bestätigt und
sichtbar, ihr Tiefenkontinuum aber ver-
schließt sich der reinen Betrachtung und ist
allein über die Bewegung im Raum zu er-
fahren. Weite Landschaften, welche die
Bildstreifen über die Jochtrennung hinweg
nun der Moment, wo aus dem kirchlichen
Gesamtraum, dem Makrokosmos der
Kathedrale (die der Gläubige als ein Glied
einer universellen Gemeinde erlebte)
Mikrokosmen sich absondern, die auf den
engeren Radius individueller Anschauungs-
erfahrung zugeschnitten werden.“
3
Dies
entspricht auch dem Streben der figürlichen
Künste nach Autonomie am Übergang von
der Gotik zur Renaissance, welches
NUMMER 3/2005
73. JAHRGANG
OSTTIROLER
HEIMATBLÄTTER
H e i m a t k u n d l i c h e B e i l a g e d e s „ O s t t i r o l e r B o t e “
Rudolf Ingruber
„Ein loblicher Passion“
Die Fresken Simons von Taisten in Obermauern und der Passionstraktat des Heinrich von St. Gallen
Die Wallfahrtskirche zu Unserer Lieben Frau Maria Schnee in
Obermauern (Virgen), die einen spätgotischen Freskenzyklus über
die Passion Christi des Malers Simon von Taisten enthält.
(Abbildung entnommen den Mittheilungen der k. k. Central-
Commission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und
historischen Denkmale, XV. Jg., Wien 1889)